Das kenyanische Oberste Gericht hat am Montag, am ersten Tag der Anhörung von Einsprachen gegen die Ergebnisse der Präsidentenwahl vom 4. März, eine Stimmennachzählung in 22 der über 32 000 Wahllokale angeordnet. Ein so früher Entscheid war nur von wenigen erwartet worden; das Gericht hat bis Samstag Zeit, über die Gültigkeit der Wahl zu urteilen. Die Entscheidungsfreudigkeit des in einer neuen Verfassung geschaffenen Gremiums zeigt, dass die Obersten Richter ihre Verantwortung wahrnehmen und einer Reihe von Unregelmässigkeiten bei den Wahlen nachgehen wollen.
Aufgeblähtes Wählerregister
Die angeordnete Nachzählung sollte nach dem Erlass des Gerichts bis Mittwoch abgeschlossen werden. Sie könnte einen ersten Aufschluss darüber geben, ob Verdächtigungen zutreffen, nach denen die Präsidentenwahl manipuliert wurde.
Nach den offiziellen Ergebnissen der Independent Electoral and Boundaries Commission (IEBC), der Wahlleitung, hatte Uhuru Kenyatta vom Parteienbündnis Jubilee die Präsidentenwahl mit einem Stimmenanteil von 50,07 Prozent vor Raila Odinga von der Coalition for Reform and Democracy (Cord) gewonnen. Odinga kam auf 43,3 Prozent. Kenyatta übertraf das absolute Mehr, das einen entscheidenden zweiten Wahlgang hinfällig macht, nur sehr knapp um 8600 Stimmen.
Die Nachzählung betrifft Wahllokale, in denen laut den separaten Einsprachen Odingas und des Africa Centre for Open Governance (Africog), einer Speerspitze der kenyanischen Bürgerbewegung, die Zahl der abgegebenen Stimmen diejenige der registrierten Wähler übertraf. Dass die IEBC ein aufgeblähtes Wählerregister verwendet habe, ist der Hauptvorwurf der Interpellanten. Er wird durch unabhängige Beobachtungen erhärtet. So errechnete die französische Journalistin Marie Wolfrom aufgrund einer Analyse der Register in sämtlichen 290 Wahlkreisen, dass die IEBC nach der Schliessung der Wahlregister im Dezember die Wählerlisten in undurchsichtiger Weise abänderte. Dabei wurden insgesamt über 152 000 Wähler «gelöscht» und rund 165 000 addiert.
Der Vorsitzende der IEBC, Hassan, blieb bisher eine Erklärung für die Unregelmässigkeiten schuldig. Er lehnte Forderungen der Interpellanten nach einer Offenlegung des zugrunde gelegten Hauptregisters wiederholt mit der Begründung ab, es sei nach Wahllokalen aufgespalten worden und nicht rekonstruierbar.
James Gondi, einer der Autoren der Einsprache von Africog, hält die Behauptung für unglaubwürdig. Das Gesetz schreibe vor, dass die Wahlleitung ein Hauptregister erstellen und bei Bedarf offenlegen müsse, sagt der Jurist und Bürgerrechtler. Dieser Argumentation folgte am Montag auch das Oberste Gericht; es ordnete die Präsentation des Wählerregisters an.
Die Stimmung schlägt um
Die Stimmung in der kenyanischen Öffentlichkeit hat sich in den vergangenen zwei Wochen gründlich verändert. Am Wahltag vom 4. März und an den darauffolgenden Tagen, an denen zunächst die elektronische Zählung ausfiel und daraufhin die manuell addierten Ergebnisse zäh und tröpfchenweise bekanntgemacht wurden, hatte Erleichterung vorgeherrscht, dass der Urnengang friedlich verlaufen war. Das Trauma der politischen Gewalt nach den Wahlen von Ende 2007 mit 1100 Todesopfern schien überwunden. Die Medien berichteten fast nur darüber und über den baldigen Einzug Kenyattas ins State House. Aber bald häuften sich Meldungen über Unregelmässigkeiten. Sie hinterliessen den Eindruck, dass die IEBC die Wahlen entweder grobfahrlässig organisiert hat oder – schlimmer noch – dass Mitglieder der Wahlleitung einem Wahlbetrug Vorschub geleistet haben.
Biometrische Wählererfassung
Ein gewichtiger Vorwurf betrifft das Versagen der elektronischen Systeme. Nach den letzten Wahlen vor fünf Jahren hatte eine unabhängige Untersuchungskommission unter der Leitung von Johann Kriegler, einem südafrikanischen Richter und Wahlexperten, Reformen vorgeschlagen. Sie sollten sicherstellen, dass in Kenya künftig glaubwürdige Wahlen durchgeführt und Gewaltausbrüche verhindert werden. Nach den Empfehlungen des Kriegler-Berichts sollten moderne Technologien genutzt werden, mit denen Ergebnisse überprüft werden können. Die IEBC schaffte denn auch mit grossem Aufwand Systeme z. B. zur biometrischen Erkennung von Wählern und für die Übermittlung der Resultate in einem eigenen Kommunikationsnetz an.
Am Wahltag versagten die Verfahren jedoch und wurden bald eingestellt. Als erst 16 Prozent der Ergebnisse ausgezählt waren, verzichtete die IEBC schliesslich auch auf die computergestützte Addierung der Resultate und griff – laut Kritikern vorschnell – auf manuelle Verfahren zurück. Laut James Gondi öffnete es zusammen mit den aufgeblähten Wählerregistern Manipulationen wie dem «ballot stuffing» (heimliches Vollstopfen von Wahlurnen mit gefälschten Wahlzetteln) Tür und Tor. Derartiger Betrug war bei früheren Wahlen verbreitet gewesen. Überprüfbar wären die Ergebnisse noch immer, aber die IEBC weigerte sich auch, Odingas Anwälten und Africog die Formulare herauszurücken, in welche die Wahlleiter in den 32 000 Wahllokalen alle Einzelergebnisse eingetragen und eine Kopie davon im Lokal angeschlagen hatten. Nur ein anderer Typ Formular, der aggregierte Ergebnisse enthält, wurde zugänglich gemacht. Am Montag ordnete das Oberste Gericht auch die Offenlegung aller primären Formulare an.
Computer spielen verrückt
Einen Hinweis auf Unregelmässigkeiten bei der Wahl geben nach Ansicht von Beobachtern auch die offiziellen Beteiligungszahlen. Die IEBC weist für einzelne Wahlkreise eine Teilnahme von über 90 Prozent der registrierten Wähler aus. Der Kriegler-Bericht von 2008 bezeichnet Wahlbeteiligungen von über 85 Prozent als unglaubwürdig. Bevor die elektronische Stimmenauszählung am nationalen Sitz der IEBC abgestellt wurde, waren ausserdem merkwürdige Computerfehler aufgetreten. So wurde die Zahl der ungültigen Stimmen «irrtümlicherweise» mit dem Faktor acht multipliziert. Dies gab Verschwörungstheorien Aufwind, nach denen zur Tarnung von Manipulationen Algorithmen in die Zählverfahren eingebaut worden waren.